Totenstille Erben. Von Julia Knaß

„Das Moos wächst immer nur an der Nordseite, Lisa, geh mal in den Wald, Lisa, Marie geht auch gern in den Wald. Sie versteht das mit der besonderen Luft, Lisa, mit der Waldluft, jetzt atmest du einmal tief durch, Lisa, dann wirst du gesund. Wir bekommen dich schon noch, du wirst sehen, wir bekommen dich hin, Lisa, es reicht nämlich, in den Wald zu gehen. Der Wald ist das einzige, was du brauchst. Der Wald ist besser als jede Psychotherapie, wenn du traurig bist, wenn dir der Sinn fehlt. Der Wald ist besser als jede Medizin, wenn du nicht Luft bekommst, wenn dir der Atem fehlt, dann musst du doch keine Medikamente nehmen, wenn du den Wald hast, wenn du die Ruhe im Wald hast, wenn der Wald dich hat. Einatmen, ausatmen, Lisa.

Der Wald war auch krank, so krank wie du, aber wir haben ihn wieder hinbekommen. Man musste nur die Kranken beseitigen. Lisa, siehst du die kahlen Stellen? Das ist aber nicht schlimm, Lisa, die Bäume, die waren alle krank, Lisa, die Bäume waren so krank, also mussten sie weg, aber es wachsen ja neue nach. Schau Lisa, junge, starke Bäume, die haben jetzt endlich genug Licht, jetzt wo die kranken nicht mehr ihre Schatten auf sie werfen, jetzt, wo die kranken sie nicht mehr zur Seite drängen können, die schießen jetzt hoch, schneller als du denkst, Lisa, alles geht schneller, als du denkst.

Alles kommt wieder und wieder und wieder, die alten Namen kommen jetzt endlich wieder zurück, Karl oder Franz oder Johann oder Sophie oder Maria, die Namen der Großväter, der Großmütter, die ehrwürdigen Namen, die kommen zurück. Lisa, nach welchen Vorfahren wirst du deine Kinder, unser Erbe benennen. Lisa, unsere Lieben sind alle im Krieg gefallen, Lisa, und du willst nicht einmal schwanger werden, selbst das ist dir zuviel. Du kannst nicht einmal die Bäume voneinander unterscheiden, aber jetzt kommen sie ja, jetzt schießen sie ja in die Höhe, und der Wald, der Wald kommt zurück, auch zu dir. Die Luft musst du einatmen, ganz tief, Lisa, atme ein, atme aus.

Versuch dich zu erinnern, Lisa, das gibt es doch nicht, dass du nichts mehr weißt. Wir glauben ja, dass du dir nur einredest, nicht zu wissen, wo du herkommst. Lisa, versuch dich zu erinnern, wieviel Geschwister (fünf) wir hatten, wieviel davon sind im Krieg gefallen (drei), wieviel Geschwister du hast (drei), dann warst du auch wieder ein Dirndl, Lisa, das war enttäuschend. Wer soll denn den Namen weitergeben? Lisa, versuch dich doch zu erinnern, du musst schon auch mitdenken, du weißt doch gar nichts. Wieviel Geschwister hatten wir (fünf), schon wieder war’s ein Dirndl, Lisa, du weißt doch gar nichts, gar nichts weißt du.

Wir müssen weiter zurückgehen, Lisa, weiter hineingehen, in den Wald. Weißt du, damals wollte auch jeder tanzen, so wie heute. Sie wollten tanzen, bis zum Ende haben alle getanzt, Lisa, so viele Leute. Menschenmassen, die ihre Tracht aus dem Kasten holen und sich zugeprostet haben, die angestoßen haben auf ihn, auf uns und alle wollten sie ihn sehen, Lisa, singen hören, der kann das, der konnte das, die Leute begeistern. Alles war ein Volkstanz, so wie heute wieder Lisa, alles ist ein Volkstanz, man muss nur im Takt bleiben, man muss nur im Schritt bleiben mit den anderen. Lisa, da war dieses Mädel, das wollte nur einmal zu seiner Musik tanzen, Lisa, das kannst du dir nicht vorstellen, wie glücklich die war. Besser wird es nicht, hat sie gesagt. Diese Begeisterung, Lisa, diese Begeisterung, wir bringen dir das auch noch bei, wir wissen ja, du glaubst, du kannst nicht tanzen, aber Lisa, mit der richtigen Führung kann jede tanzen.

Schau nur genau hin, schau dir den Wald an, schau in den Wald hinein, unseren Wald, unser Erbe, dreh dich nicht weg. Lisa, woher glaubst du, kommt das Geld, wer glaubst du, hat auch dein Leben finanziert, was glaubst du eigentlich, wer du bist, wenn du nicht sein willst, wenn du dich nicht erinnern willst. Wir wissen es doch, du bist die größte Heuchlerin von allen, Lisa, wenn du so tust, als hätte es nichts mehr mit dir zu tun, als könntest du dem einfach den Rücken zukehren. Aber wir werden dir es schon noch näherbringen, dich in das Moos, dich in die Tannennadeln drücken.

Schon dein Urgroßvater war im Wald, sein Gewehr hängt noch heute vor dem Haus. Schon dein Urgroßvater hat tagelang geschwiegen und gearbeitet und geschwiegen. Wir müssen nicht reden. Im Wald da kann man schweigen und in Ruhe arbeiten, du wirst das schon auch lernen, wie man richtig schweigt, wie man richtig arbeitet, nicht so wie du dahinlebst, Lisa. Wenn du dir keine richtige Arbeit suchst, dann suchen wir dir eine, Lisa. Das liegt an den Büchern, die du liest, Lisa, eine junge Frau, die sollte sich ihren Kopf nicht über Politik zerbrechen. Aber keine Sorge, das werden wir schon noch korrigieren, du wirst schon noch, da muss man nur an die Waldluft, dann wirst du dich schon sputen, so wie wir, wir haben ja sogar schwanger, sogar am Tag von der Geburt noch im Wald gearbeitet. Das ist nichts, wenn man soviel Zeit zum Nachdenken hat, Lisa, wie du, das ist nichts, da macht man sich nur unnötig Sorgen. Besser man arbeitet, man arbeitet mit dem Wald, dann hat man keine Zeit zum Nachdenken.

Hörst du, wie der Wald zu dir zurückruft, wie der Wald dich will, hör hin Lisa, hör genau hin, schau in den Wald, schau hin, Lisa, es sind doch nur Bäume, es ist doch nur Sprache, hör jetzt hin, Lisa, sei nicht so feig, Lisa, reiss dich zusammen, Lisa, es ist doch nur der Wald, Lisa, wir müssen noch tiefer hineingehen, Lisa, noch viel tiefer, lauf hinein, lauf in den Wald, bis du die Bäume nicht mehr sehen kannst, Lisa, bis du ein Teil des Waldes wirst.“

Julia Knaß ist Mitherausgeberin der Literaturzeitschrift mischen, lebt und schreibt in Graz. Auf Twitter ist sie hier zu finden.

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