Früher beklagte ich mich immer über meine Fernbeziehung. Ich schrieb herzerweichende Briefe voller Sehnsucht und Was-wäre-wenn-Spekulationen – einmal sogar eine Erzählung, der ich den Tiel Leer gab. Genauso fühlte ich mich nach unserer Begegnung dann oft, leer. Unsere Berufe ließen nicht zu, jedes Wochenende einander besuchen zu können. Mehr noch: der verdammte Beruf war auch der Grund, weshalb er weggezogen war.
Heute, da es verboten ist, zu reisen, verblasst die Erinnerung an das selbstgewählte Auf und Ab unserer Begegnung, an die Reisen von A nach B der Liebe wegen*. Heute, da es verboten ist, die eigene Wohnung zu verlassen und man von Polizeipatrouillen angehalten und nach dem Grund für den kurzen Gang zum letzten Späti in der Nachbarschaft, der noch nicht Pleite gegangen ist, gefragt wird; oder zum Supermarkt, um vielleicht noch ein paar glutenfreie Nudeln zu ergattern – Weizennudeln sind immer schon sofort ausverkauft –; heute verblast die Erinnerung an die gegenseitigen Besuche, die von uns enorm aufgeladen wurden mit allmöglichen Erwartungen. Sie sollten doch jedes Mal die schönsten und innigsten Wochenenden werden.
Heute, da so vieles verboten ist, stellt sich die Frage nicht mehr, wann wir uns das nächste Mal wochenends sehen können. Die Krise, die Quarantäne, die Pandemie haben meine und viele andere Fernbeziehungen zum Aufgeben gezwungen, genauso wie die meisten Geschäfte oder Läden, die nicht einen millionenschweren Konzern oder staatliche Hilfen (oder beides) im Hintergrund haben. Beziehungen scheint es nur noch in Form von traditionellen Kernfamilien, Papa, Mama, Kind, zu geben, die dann nur an einem Ort, an einer Adresse, zusammenleben.
Das Patriarchat erblüht, oder zeigt sich so, wie es vor der Krise auch immer schon existierte, nur vom bemühten Engagement derer, die nicht passen wollen, liebevoll überdeckt und von den Mächtigen gönnerhaft geduldet. Diejenigen, die jetzt heldenhaft der Krise entgegentreten sind die echten Männer, die Macher, die Maschinenführer; eine Armee an Virologen, Gesundheitsministern, Pressesprechern und Krisenmanagern halten den Apparat am Laufen. Die Frauen und der Rest bleiben unsichtbar im analogen Raum, in der Pflege, in Krankenhäusern, in der Lebensmittelbeschaffung oder eben in der Quarantäne – wie wir, die Träumer, die Pussys, die sich Briefe schreiben.
In der Krise bleiben mir nur die Erinnerungen an ihn, den ich jetzt um so mehr liebe seit wir so lange getrennt sind, und was mir erst jetzt so richtig bewusst wird. Die Beziehung verblast, die Liebe wächst. Absurd. Wieder schreibe ich ihm Briefe. Diesmal sind sie nüchtern, nicht herzerweichend, aber voller Hoffnung, die ich noch nicht aufgegeben habe. Meine Hoffnung korrespondiert mit der Dauer der Ausgangssperre. Jedes offizielle Statement verfolge ich mit Spannung, schaue mir jede Pressekonferenz an und studiere jeden Morgen die Pandemie-Dashboards.
Auch die Selfies, die er mir schickt, geben mir Hoffnung. Vor allem die, auf denen er glücklich aussieht. Sein Bart ist richtig lang geworden. Auch ich schicke ihm Selfies. Zum letzten Foto meinte er nur, ich sehe entspannt aus, trotz unmöglicher Frisur. Meine Haare wachsen schnell, zu schnell, und verzerren das Bild, das ich möchte, das er von mir in Erinnerung behält. Dazu Hoodie, Handschuhe und Schutzmaske – fertig ist der postapokalyptische Coronapunk.
Zugenommen habe ich auch. Zu wenig Bewegung, zu viel Junk Food. Ich bereite mir mittlerweile täglich drei Quarantänemahlzeiten zu. Auch wenn bestimmte Produkte oft nicht mehr erhältlich sind, weil ich es einfach nicht schaffe, in voller Schutzmontur schon morgens um 8 Uhr in der Schlange vorm Supermarkt zu stehen, fehlen doch viele Grundnahrungsmittel noch nicht. Reis, Kartoffeln, Konserven, Brot, Tee, Wein, Bier sind nach wie vor verfügbar. Ich merke auch, dass ich völlig anders einkaufe als die Mehrheit. Margarine zum Beispiel ist immer schon früh ausverkauft, Margarine auf Sojabasis dagegen ist lange erhältlich. Fleisch – es gibt nahezu nur noch Geflügel – ist rasch weggehamstert, Fisch dagegen bleibt relativ lange im Angebot. Zum Frühstück mache ich mir ein Käsebrot mit Gurke und täglich ein Ei. Um Kaffee zu sparen, trinke ich morgens nur eine Tasse, über den Tag verteilt vor allem Tee.
Es gibt jetzt auch Mittagessen. Oft glutenfreie Nudeln mit Tomaten- oder Tunfischsauce. Ich habe, seit ich mit zwanzig bei meinen Eltern ausgezogen bin, kein Mittagessen mehr gegessen. Abends ein Blech Pommes Frites mit Ketchup oder Gemüseauflauf oder Rotes Curry mit Kokosmilch. Ich habe den Eindruck, dass es tiefgefrorene Pommes Frites und Ketchup sogar nach einem Atomkrieg zwischen den konkurrierenden Gesundheitsämtern in Europa noch geben würde.
Das ist jetzt so ein Krisengedanke; ich will es nicht beschwören – Pommes Frites und Ketchup aber gehen nie aus. Ich habe oft Krisengedanken. Ich frage mich: Kann es noch schlimmer werden? Wird die Ausgangssperre noch verschärft? Wann werden die Streiks im Gesundheitssystem gewalttätiger? Wann beginnen die Plünderungen? Weg damit.
Über den Tag verteilt trinke ich – zur Prophylaxe – mindestens zwei Liter Tee. Abwechselnd Salbei, Fenchel und Earl Grey. Abends gluckert es in meinem Bauch wegen der vielen Flüssigkeit. Das Virus ist – sagen die Gesundheitsämter – allein durch Tee zu bekämpfen. Es gibt immer noch keinen Impfstoff und keine Medikamente gegen die Krankheit. Es heißt: Viel trinken, nicht rauchen, zuhause bleiben und ausruhen. Ich ruhe mich aus von einer übersäuerten Gesellschaft. Und rauche mehr denn je.
Meine Arbeit liegt brach. Das, womit ich meine Beziehung damals enorm beschwerte, ist jetzt hinfällig geworden, federleicht. Ihm geht es ähnlich. Beide haben wir keine systemrelevanten Berufe. Nach den ersten Wochen, in denen wir damit beschäftigt waren, uns – ähnlich wie vor den Supermärkten – in die virtuelle Schlange zur Beantragung eines Hilfspakets zu stellen, Papierkram zu erledigen, Ausfalllisten zu führen, Kosten zu senken, ist jetzt Ruhe eingekehrt. Ruhe vor den Geldsorgen. Die Ungewissheit bleibt.
Seither ist viel Zeit für völlig andere Beschäftigungen: Zum Beispiel einen Tag lang Filme und Reportagen über den Exorzismus der Anneliese Michel anzuschauen; oder erschreckend viele Fantasy- und Science Fiction-Serien zu gucken; oder eigene Videos zu produzieren, die mich dabei zeigen wie ich besonders dramatische Krisenlyrik lese; oder die Videos von Kolleginnen und Kollegen zu schauen, wie sie ihrerseits Texte lesen – im Eisbärenkostüm, in Unterhosen, zusammen mit frisch geschlüpften Küken, während sie Bier trinken und wegen der Netzüberlastung als verkrisselte, gruselige Gestalten erscheinen.
Und dann übersäuerte mein Magen. Doch zu viel Kaffee, auf jeden Fall zu viel Wein und zu viel Pommes Frites mit Ketchup. Ich hielt eine Woche lang Diät. Nur Möhren und Reis. Und Wasser. Dann trank ich zwei Abende in Folge Cosmopolitans. Es musste sein. Cranberry-Saft war endlich wieder erhältlich. Mein letzter Brief war ohne Hoffnung. Bisher kam keine Antwort.
Ich träume wie wild. Von diesem Brief. Von seiner Reaktion auf meine versiegende Hoffnung. Im Traum schrieb er mir über seine Jugend. Auch er träumt gerade viel. Beide träumen wir von unserer Jugend, von der Qual des Aufwachsens und was wir alles hinter uns lassen mussten, um erwachsen zu werden. Ich träume wie er träumt. Das klingt verrückt, denn es fühlt sich an wie die Negation der Negation und macht das Geträumte positiv.
In einem Traum war ich, also er, im ältesten Tempel der Welt. Irgendwo in der Türkei. Ein Priester bespritzte die Gläubigen – es waren mit mir acht – mit seinem Blut, jeder bekam einen 12.000 Jahre alten Schädel, den wir mit scharfen Steinkeilen bearbeiteten. Unter Anleitung des Priesters sollten wir Schriftzeichen in die Schädel ritzen, um so dem Geheimnis des menschlichen Gehirns auf die Spur zu kommen.
In einem anderen Traum sehe ich meinen Vater, also seinen, wie dieser versucht den oberen Teil einer Schrankvitrine mitsamt der darin ausgestellten Porzellanfiguren vom unteren Teil des Schranks vorsichtig abzuheben und zur Seite zu stellen. Das Abheben klappt noch, doch das Absetzen nicht. Alles darin verrutscht, schlägt gegen die Glastüren, die öffnen sich, der ganze Kram poltert heraus und zersplittert in tausend Teile. Der Vater flucht und schimpft und gibt so nur zu verstehen, dass er es nie richtig gelernt hat, vorsichtig zu sein, umsichtig zu sein, zart zu sein. Und so sehr er sich auch bemüht, am Ende zerstört er die Zartheit, die filigranen Porzellanfiguren. Unsere Beziehung ist wie eine dieser Porzellanfiguren, beim Hochheben und Absetzen gehen wir kaputt, weil wir die Zartheit nie richtig gelernt haben.
In der Krise wird Zartheit nicht gebraucht. Nur die Maschinenführer bleiben in Bewegung und mit ihnen die Digitalmaschinen, die Dashboards, die Videokonferenzen, die Live-Streamings. Ihnen geht keine Energie verloren, meiner Beziehung schon – da helfen auch die Briefe nicht. Und die Träume auch nicht.
Träume sind nur virtuelle Begegnungen mit mir selbst, denke ich. Positiv werden sie ja nur mathematisch, wenn er träumt an diesem anderen Ort, nachts in seinem Bett. Sie sagen dasselbe wie das Bild seines Gesichts auf meinem Monitor: mehr über mich als über ihn.
So, oder so ähnlich.
* Von A nach B der Liebe wegen ist dem Song Perpetuum Mobile der Einstürzenden Neubauten, vom gleichnamigen Album (2004) entnommen.
Alexander Graeff ist Schriftsteller und lebt in Berlin. Seine letzte Veröffentlichung war »Die Reduktion der Pfirsichsaucen im köstlichen Ereignishorizont«.
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