Als ich nach langer, ja wirklich langer Reise im Ausland ankam, suchte ich mir die erstbeste Autovermietung, die ich finden konnte.
Seit meiner Ankunft ist es noch gar nicht wirklich hell geworden, aber nachdem ich jetzt endlich den Knopf gefunden habe, um die Scheinwerfer zu betätigen, funktioniert die Fahrt gut. Ein Ziel gibt es nicht, was zählt ist nur der rechte Fuß auf dem Gaspedal.
Die Landschaften fliegen an mir vorbei, doch ich kann diesem Umstand keine Beachtung schenken. Irgendwann habe ich keine Bedürfnisse mehr, so schnell fahre ich. Es gibt nur noch mich auf der Welt.
Die Heizung pustet mir viel zu warme Luft ins Gesicht. Ich denke, ich müsste ersticken. Wie das Ding auszuschalten ist, erklärt sich mir nicht. Dann kommt der Einfall, den Kopf aus dem Fenster zu strecken. Ich tue es so gut es eben geht, um währenddessen nicht von der Fahrbahn ab zu geraten. Dabei gebe ich etwas mehr Gas, um mit der Maschine die auf der Fahrbahn schwirrenden Nebelschwalle in großen Löchern zu durchbrechen. Mein Kopf fliegt.
Außer mir sind nur wenige Leute auf den Straßen unterwegs. Gut, denke ich, dann muss ich keine Rücksicht nehmen. Ein Teil meines Gehirns ist erstaunt darüber, dass mir, in meinem gegenwärtigen Zustand, das Wort Rücksicht überhaupt noch in meinem Wortschatz zur Verfügung steht. Rücksichtnehmen ist das Letzte, was ich will. Auf mich und meine Empfindungen hat ebenfalls sehr lange Zeit niemand, nicht eine einzige Person, Rücksicht genommen. Ich hätte es einigen Leuten heimzuzahlen.
Während des Fahrtrausches kommt mir in den Sinn, worüber ich schon einige Male nachdachte: Wenn ich mich umbringen würde, würde ich sie alle namentlich erwähnen. Ja, sie alle, die meinen Selbstmord beeinflusst, begünstigt oder gar beabsichtigt hatten. Aber jetzt und hier erfreue ich mich an der Leichtigkeit des Seins, an der hohen Geschwindigkeit und aberwitzigem Überwahn.
Ich bin multitaskingfähig. Nicht nur, dass ich während der Fahrt den Kopf in den Wind halten kann, ich schaffe es auch, währenddessen auf meinem Handy Textnachrichten zu verfassen, weil es mich danach drängt. Antrag stattgegeben.
Dann kommt mir eine Idee, die mir noch viel besser gefällt. Sie kitzelt jahrzehntelang sorgfältig zurückgedrängte Passionen aus mir heraus, sodass ich mir sicher bin, meine Haare müssten sich elektrisch aufgeladen haben.
Ich fühle es nicht nach, ich vertraue meiner Allwissenheit.
Ich entscheide mich dafür, den Wagen kurz anzuhalten, um die aufkommende Schreiblust zu befriedigen. Dafür muss ich an den Laptop im Rucksack, den ich zuvor achtlos unangeschnallt auf den Beifahrer*innensitz abgelegt hatte. Mein Plan ist es, den Laptop sicher auf meine Beine zu legen, um während der Fahrt zu schreiben. Ich fühle mich zu allem fähig.
Ich freue mich wie ein kleines Kind, das einfach seine Wünsche erfüllt bekommt. Diese Euphorie, die nichts mehr mit dem Boden der Erde zu tun hat – sie findet in der Luft statt, so sehr beflügelt sie – breitet sich in mir aus und ich beginne meine Genialität in jeder Faser meines Körpers zu spüren. Fingerspitzen sowie Zehenspitzen profitieren davon insofern, dass die Zehen ganz eifrig und munter werden, das Gaspedal bis zum Anschlag zu drücken und soweit es möglich ist auch darüber hinaus. Im Kopf scheint mir nichts mehr unmöglich zu sein, ich könnte alles schaffen, haben, machen, wenn ich nur genug Energie darauf verwenden würde.
Schneller Fahren, um das Um-die-Kurven-rauschen auch innerhalb der Milz zu spüren. Meine Organe wollen erschüttert werden. Sie befehlen es mir. Deswegen weiß ich, dass ich es schaffen werde, das Auto dazu zu bringen, noch schneller zu fahren. Ich denke all meinen Willen und Energie in den rechten Fuß und beginne, auf‘s Gaspedal einzutreten.
An gar nichts störe ich mich, jedoch habe ich ein paar verächtliche Gedanken für mein altes Leben übrig. Immer glaubte ich, nichts zu können, wenn etwas nicht funktioniert hatte, dabei habe ich einfach nie gewusst, dass es möglich ist, darüber hinauszugehen. Ich habe es einfach nicht gewusst.
Verärgert verzieht sich das Gesicht für eine Sekunde, was faktisch eine Sekunde zu viel ist. Meine Lippen kräuseln sich spöttisch und formen einen Kussmund, um meine jämmerliche vorherige Existenz mit einem Schmatzer in die Luft zu verabschieden. Auf Nimmerwiedersehen.
Wie eine Schuppenflechte steigt das grelle Licht von der gegenüberliegenden Fahrbahn vor mir auf und ich bemerke, dass ich nicht mehr hier bin.
Mein Horizont scheint mir bis zu dem Punkt beschränkt, bis wohin die Autoscheinwerfer auf dem Asphalt vor mir reichen.
Dann bin ich weg
Carter Katz lebt in Bochum. Zuletzt von ihr erschienen “die herren” in Mischen #4.
Diese Beiträge könnten dir gefallen:
Oh Zizou! Oh Zizou! von Sofie Lichtenstein
Konsumstatus complicated von Julia Knaß
Warum die Bravo Bar so heißt wie sie heißt von Johannes Finke
27.12.2019, 12:30 Uhr, Flugzeug von Gen Eickers
Mutter, warum haben wir nicht gelernt zu lieben? von Sarah Berger