Heute teilen wir das Abendlicht. Es knickt in Dein Fenster zuerst hinein, dann in meines, und wenn es bei Dir bereits warm den Raum ausfüllt, ist es bei mir noch eine schmale und gleißende Klinge. Weil gerade keine sonderlich erfreulichen Tage sind, lese ich nicht Beckett, obwohl ich es mir immer wieder vornehme. Die Arbeit an einer gemeinsamen Annäherung an sein Schreiben verankert mich in der Wirklichkeit, aber ob ich das will, ist eine andere Frage. Die Ausgabe seiner Briefe geduldet sich eingemauert hinter anderen Büchern. Auf dem Schuber befinden sich eine leere Mutti-Tomatendose mit Stiften, zwei Schachteln Streichhölzer und eine kleine Porzellanschale unbekannten Inhalts. Eine Staubschicht auch.
Während Du Dich fragst, wer so drauf ist, Beckett für erfreuliche Tage aufzusparen, lese ich an seiner statt die gesammelten Stücke von Sarah Kane. Ich brauche das Buch bloß aus dem Augenwinkel anzusehen, schon ist mir der letzte Juli wieder so nah, als ich einige Zeit in Berlin verbracht habe. Zwei Wochen, um genau zu sein, aber jeder Tag war lang wie zwei Sommer. Mein Koffer war halb voll mit Büchern, doch gelesen habe ich beinah nur Kane, in leuchtendem Gelb die Zeilen markiert:
A I love you still,
B Against my will.
Ich nehme mir Sarah Kanes Stücke seit jeher in einer Art Bibelstechen vor, lese erratisch und schlage immer nur die Seiten auf, wo bereits eine Falte im Buchrücken ist. So ist es zu erklären, dass ich diese Zeilen, die eigentlich von zwei unterschiedlichen Figuren gesprochen werden, immer als eine einzige, zusammenhängende Aussage aufgefasst habe: I love you still, against my will. Ich denke nicht, dass das falsch ist, immerhin steht da ein Komma hinter still, richtig scheint es mir jedoch auch nicht zu sein. Wenn man die Zeilen ganz aus dem Kontext des Stücks herauslöst (und was ist Liebeswahn schon anderes als ein weiterer Bruch in der Signifikantenkette), klingt es nach einer romantischen Liebe, wie ich sie mir vorstelle: voller Selbstaufgabe und ohne einen Funken Hoffnung, willenlos, wider besseres Wissen. Ich saß oft am Berliner Küchentisch, im Fenster der Hinterhof. Im Zwielicht. Manchmal rauschte eine Brise durch die Linde, selten ein Regenguss, ansonsten war es still. Am anderen Ende des Hofs sah ich das Vorderhaus. Durch die runden Stiegenhausfenster fiel warmes Licht, wenn jemand nach Hause kam oder fortging. Ich saß und las und wunderte mich darüber, wie unmöglich manches Loslassen ist.
Derzeit erwache ich in der Nacht zuverlässig zwischen vier und fünf und denke über Willensfreiheit nach. Darüber, ob man sich auch dagegen entscheiden kann, weiterzulieben. Vor allem, wenn man im Weiterlieben den eigenen masochistischen Impuls erkennt, an dem nichts Gutes ist, nichts Leichtes. Einzig Hingabe als Aufgabe. Against my will. Aufgabe des Selbstschutzes und des Selbstrespekts, der Autonomie und jener Vorsicht, die vernünftige Menschen an den Anfang jeder ihrer Handlungen stellen. Dann schlafe ich wieder ein.
Von Tove Jansson gibt es ein „Sommerbuch“, das auf einer Insel im finnischen Meerbusen spielt. Die Hauptfigur ist ein Mädchen, Sophia. Sie verbringt dort mit ihrer Großmutter die Sommermonate (es muss so hell gewesen sein bis tief in die Nacht; ich habe blaue Stunden in Helsinki verbracht, die wiederum sommerlang waren). Sophia bekommt irgendwann am Anfang des Buchs eine kleine graue Katze, eine Fischerskatze. Wenn sie der Katze ihre Liebe entgegenbringt, energisch und ohne Maß, nimmt die Katze sofort reißaus.
„Je mehr man den anderen liebt, desto weniger kann einen der andere leiden.“
„Das stimmt genau, bestätigte die Großmutter. „Und was macht man da?“
„Man liebt weiter“, antwortete Sophia drohend. „Man liebt noch viel, viel mehr.“
Ihre Großmutter seufzte und schwieg.
Dieser Dialog wäre nicht halb so spektakulär, wenn Tove Jansson nicht das vollkommene Adverb gefunden hätte: drohend. Die Katze hat sich im Geschirrkasten in Sicherheit gebracht, die Großmutter hat bereits zu viel erlebt, um sich einschüchtern zu lassen. Wer ist es also, dem da gedroht wird? Wohin soll sich das Drohen denn richten, wenn nicht nach innen?
Ich schreibe diesen Text, als würde derjenige, der ihn garantiert nicht liest, ihn Wort für Wort studieren. So komme ich mir wichtig vor: Ich bin Teil meines eigenen Lacan-Experiments, und nur ich und der große Andere wissen, dass es überhaupt durchgeführt wird. Das ist bitter, aber man stelle sich nur vor, ich wäre vollkommen allein damit.
Sarah Kanes letztes Stück, posthum uraufgeführt, heißt „4:48 psychosis“. Die Autorin, lernt man in der Einführung, ist während einer depressiven Episode jede Nacht um kurz vor fünf aufgewacht und hat so nah am Anbruch der Dämmerung Momente unverhoffter geistiger Klarheit erlebt. Please open the curtains, endet das Stück. Ich stelle mir die Stimme, die dies sagt, leise und entfernt vor, eine Stimme, die eigentlich nicht mehr da sein dürfte, nur noch als ihr eigener Nachhall die Erlösung des Publikums verkündet. Meine Gardinenstange im Schlafzimmer ist halb aus der Wand gebrochen, sie hängt so unsicher, dass ich mich die Vorhänge nicht mehr zu bewegen traue. Es ist immer derselbe Spalt da, durch den morgens die erste Sonne hinein fällt, und es ist wieder das gleiche Licht, das, so stelle ich mir vor, wenige Minuten zuvor bereits versucht hat, durch Dein Fenster einzudringen. Ich weiß genau, warum ich den Spalt nicht schließe. Neue Gardinenstangen anbringe, neue Gardinen, ein neues Haus um die neuen Vorhänge baue und eine neue Stadt um das neue Haus. Es ist ein dunkler Trieb, der einen weiterlieben macht, zum Verharren in Zuständen bringt, in Grausigkeiten, Unannehmlichkeiten, im Licht, das man nicht will, nicht braucht. Noch nicht.
(Dieser Text ist aus einem Briefwechsel mit Isabella Feimer heraus entstanden.)
Jana Volkmann lebt als freie Autorin und Journalistin in Wien. Im September erscheint ihr zweiter Roman „Auwald“ im Verbrecher Verlag.
Diese Beiträge könnten dir gefallen:
Shirley im Dezember von Jess Tartas
Konsumstatus complicated von Julia Knaß
Warum die Bravo Bar so heißt wie sie heißt von Johannes Finke
27.12.2019, 12:30 Uhr, Flugzeug von Gen Eickers
Mutter, warum haben wir nicht gelernt zu lieben? von Sarah Berger