SEX & PERSPEKTIVE. TEIL EINS. VON SARAH BERGER

Gleich ruft sie: „Kommst du!“ Am Fuß der Treppe haben sich unter den fünfzehn Paar Schuhe kleine braune Pfützen gebildet. Keine von uns hat mit Schnee gerechnet. Ich kann mich nicht daran erinnern, wann es das letzte Mal geschneit hat. Es muss schon einige Jahre her sein, wir waren überrascht und die Schuhe nass. Das Schmelzwasser unter den Solen verteilt sich langsam auf den Kacheln. Es ist grundsätzlich schwer, Flüssigkeiten zu trennen. Mit dem Mund geht es, wenn ich einfach die Lippen schließe. Ich bleibe verschlossen.

Dann ist auch noch Sonntag. Ich hasse Sonntage. Das letzte Mal, als ich an einem Sonntag Spaß hatte, saß ich mit Ella in einem vietnamesischen Restaurant. Sie spielte mit meinen Fingern. Wir behaupteten beide, schüchtern zu sein. Dann erzählte sie vom Selbstmord ihrer Mutter; dass sie sie in der Küche gefunden habe, aber es schon zu spät gewesen sei; die Selbstmordrate bei Menschen mit bipolarer affektiver Störung relativ hoch und es insoweit erstaunlich sei, dass ihre Mutter so lange durchgehalten habe. Und irgendwann wird meine Mutter rufen: „Kommst du!“

Ich starre auf den Walnussbaum im Garten. Sein Wurzelwerk wuchert bis an das Fundament des Hauses. Er steht inmitten des Gartens oder vielmehr leicht nach links versetzt und ist von meinem Fenster aus gut zu erkennen. Ich musste nicht lange um dieses Fenster kämpfen, es gehört zum kleinsten Zimmer im Haus, niemensch sonst in meiner Familie erhebt Anspruch darauf. Wegen des Fensters fällt mir schließlich auch auf, dass der Baum weniger die Mitte des Gartens markiert, als vielmehr leicht nach links versetzt gegen das Fundament des Hauses vorgedrungen ist. Er hat bereits zahlreiche Jahre überdauert. Gut möglich, dass der Gleichklang an flachen, weißen, ineinander gebauten Häusern vor zwanzig oder dreißig Jahren zu Stadtrandnaherholungszwecken um den Walnussbaum herum gebaut wurde. Ich beklage mich. Zu Recht. Ich sitze weinend unter dem Baum und frage, warum gerade er weichen soll. „Immer sollen die Dinge weichen“, sage ich, „immer soll uns alles ausweichen“. Ich weigere mich, den Platz unter dem Baum zu verlassen.

Heute werde ich nachgeben müssen. Ich kann nicht endlos lange am Fenster stehen und dieses Spiel spielen. Als könnte ich ihr Rufen, das Klirren der Stimme zwei Stockwerke herauf, das Stöhnen und Verdrehen der Augen nicht wahrnehmen. Mutter erwartet mich am Fuß der hölzernen Treppe. Im Türrahmen stehend zwischen Küche und Eingangsbereich streckt sie mir wortlos den Schrubber entgegen. Ich hätte Ellas Angebot annehmen sollen. Ich hätte sagen sollen: Ja, komm mit! Stattdessen sagte ich nein und dass sie sich nur langweilen würde. Keine ruhige Langeweile oder entspannende Langeweile, nicht diese Langeweile Sonntagnachmittags immer noch im Bett zu jeder Bewegung unfähig ruht Ellas Kopf schon seit einer Weile auf meinem nackten Bauch. Plötzlich richtet sie sich auf, schaut mir tief in die Augen und korrigiert: „Sag Kunstschaffende oder Kunstperson, im Kontext ist das verständlich, nimm neutrale Begriffe, kein Sternchen oder Unterstich, vor allem beim Schreiben!“

In pinken Schlieren läuft die frische Farbe in ihren Haaren über ihr Gesicht auf meinen Bauch und sammelt sich in meinem Bauchnabel. Es sei der wärmste Sommer seit langem, hören wir im Radio, es gebe nicht genug Wasser, wir sollen die Bäume und kleinen Gärten zwischen den Parklücken gießen. Die Stadt kommt damit kaum hinterher, und überall werden Schilder aufgestellt mit der Bitte, Zigaretten nicht angezündet auf der Straße zu entsorgen. Ich will Ella den pinken Schweiß, die Farbe tief in die Haut reiben. Bis sie endlich eins sind, so lange würde ich reiben. Bis sie ganz sind …

mit dem Mund geht es, einfach die Lippen schließen

… jetzt begeistert den frischen Lappen, die soft aufgeraute, zuverlässig saugfähige Mikrofaseroberfläche mit leichtem Druck mehrmals über die weißen Kacheln wischen. Der in elegant modernem off-white designte Lappen kann das Hundertfache seines Gewichts in flüssiger Form aufnehmen. Während ich über den Boden robbe, blutige Knie, erinnerst du dich an das eine Jahr, als ich jede Mahlzeit nur verflüssigt zu mir nahm? Ich habe mir eigens dafür einen Mixer vom Taschengeld gekauft und jedes Essen nach der Zubereitung zerschreddert, und Mutter beruhigt sich langsam. Endlich sind die Kacheln von der nassen Qual befreit. Niemensch wird unangenehm berührt sein beim Anblick eines desolaten Entrées. Wie in einem abgestandenen Bahnhof sah es bis eben in unserem Flur aus. Im tiefsten Winter sprengt gefrorener Schmutz die Fugen in den kalten Wänden. „So entstehen die Risse“, erklärt mir Ella. „Und deshalb fließt Schmutzwasser die Wände hinab. Daraus entstehen schließlich die fließenden Strukturen auf den Wänden, und wenn du dir die Fensterscheiben genau anschaust, findest du auch in den Scheiben zerflossene Spuren, fast so, als wäre Wasser zwischen die Scheiben geraten, um darin still zu stehen. Das ist nämlich das Glas selbst, das durch die starke Sonneneinstrahlung zu schmelzen beginnt.“

Siehst du Mutter, es könnte alles noch viel schlimmer sein. Wenn du die Kacheln jetzt betrachtest: Alles trocken. Und später werden sich die Gehenden über warme Füße freuen.

Dabei hat Mutter sowieso nichts zu lachen mit mir. Ihr Blick, als ich vor einigen Stunden vorschlug, der Besuch – bestehend aus meiner Schwester und ihrem Mann, meinem Bruder, seiner Frau, meinen zwei Neffen und dem Neugeborenen, meinem Onkel, meinen zwei Omas und ein paar nicht verwandte Personen aus der Nachbarschaft und Erika – könne doch einfach die Schuhe anlassen, weil es seltsam sei, überhaupt Schuhe anzuziehen, nur um sie dann wieder auszuziehen, sind Ella und ich uns doch einig: Schuhe gehören zum Outfit … wir würden nie auf die Idee kommen, unseren Besuch darum zu bitten, sich die Schuhe auszuziehen … Mutter lacht nicht, und ihr begrenztes Repertoire an Reaktionen kommt rasch zum Erliegen. Vermutlich hebt sie die Augenbrauen vor Empörung oder reißt die Augen weit auf, ich will es gar nicht sehen. Zum Glück wohnen alle Familienmitglieder_innen in der Nähe. Sonst würden vielleicht meine Neffen in meinem alten Zimmer übernachten, oder meine Schwester hätte das Haus schon längst von meiner Mutter übernommen, und ich müsste im Nachbarhaus bei Erika schlafen. Meine Schwester würde dann im Türrahmen stehen und zur Tarnung eingeladene Ankömmlinge begrüßen, obwohl wir alle wissen, dass Mutter das Ausziehen der Schuhe kontrolliert, so als wäre es in den letzten dreißig Jahren jemals vorkommen, dass auch nur eine Person die Schuhe nicht ausgezogen hat.

Nach und nach bildet sich also die Schmelzwasserpfütze unter den Schuhen unseres Besuchs. Mutter befürchtet, der restliche Abend könnte davon bestimmt werden, dass die nächsten Ankömmlinge mit blanken Socken in der Flüssigkeit stehen. Es würde nur noch über eins gesprochen werden: Die Dielen waren nass! Diese furchtbare Nachlässigkeit! Sie weiß: Es gibt keine Garantie dafür, dass sich unsere Verwandten sowie der restliche Besuch an die zwanzig, dreißig gelungenen Feste zuvor, und nicht an den gegenwärtigen Schmelzwasserskandal, erinnern werden. Also steht Mutter gespannt und verständnislos im Türrahmen, erspart sich die Frage, warum ich nicht von ganz allein auf die Idee gekommen bin, die Diele zu wischen; warum sie mich mehr als ein mal rufen muss, bevor ich endlich auf der Treppe stehe, um ihre Verzweiflung, das flehende Echo ihrer strengen Stimme in meinen Ohren hallen zu lassen.

Wir haben Glück, Mutter! Während ich in die Knie gehe, klingelt es nicht. Niemensch wird unsere Nachlässigkeit bemerken. Dann schickt sie mich in die Küche, um das Auftragen des Büffets zu dirigieren. Bis spät in die Nacht haben wir Blätterteig portioniert und löffelweise mit Spinat und Käse befüllt. Weil ich die Blätterteigtaschenecken in der falschen Reihenfolge faltete, wurde ich immer wieder ermahnt. Darin besteht das besondere Talent meiner Mutter: das Erfinden ästhetischer Prinzipien. Und egal, wie sehr ich auch darauf beharrte, dass sie am Vortag noch etwas ganz anderes gesagt hat, hielt sie wie immer, wenn sich ihre Wunschvorstellungen mal wieder ändern, erbittert daran fest, es schon immer genau so gemacht zu haben. Endlich wurde ich zum Geschirr aufräumen degradiert. Ich war der ehrwürdigen Aufgabe, Blätterteigtaschen zu falten und eine Wallnuss genau in der Mitte der kleinen Erdbeertörtchen zu platzieren, nicht gewachsen. Ich übernehme ungern Verantwortung. Ich hatte nie gelernt, was Verantwortung ist. Sie weiß sich darauf keine Erklärung; sagt stets zu sich, ich sei schon als Kind bockig, eigentlich nicht erziehbar gewesen. Und während sie die dreiundfünfzig Blätterteigtaschen korrekt faltete, wurde meine Nachlässigkeit bei all diesen Dingen nach und nach zu ihrem eigenen Versagen.

Einziger Lichtblick aus dieser Partyvorbereitungstristesse ist das nachmittägliche Klingeln Erikas. Die entgrenzte Nachbarin. Immer mit einem Ohr an die innere Wand der Reihenhaushälfte gelehnt. Sie behauptet zwar, vormittags beschäftigt zu sein, aber ich weiß, dass sie im Fernseher nur Morgens- und Mittagsmagazine schaut. Manchmal bügelt sie während des Fernsehens die Hemden aus der Nachbarschaft und erspart sich damit Botengänge und Gartenarbeiten. Vor einigen Jahren kaufte sie sich einen kleinen Fernseher für die Küche, damit sie auch beim Kuchenbacken Mittagsmagazine schauen kann. Obwohl ich all das weiß, ist es mir nie gelungen, sie nach dem Walnussbaum zu fragen. Immer haben andere Dinge zwischen uns gestanden: meine zierliche Kinderhand etwa, die sich durch das Maschendrahtör presste, um die makellosen hinteren Johannisbeeren zu pflücken, nachdem ich die vorderen, gut zugänglichen Beeren bereits alle aufgegessen hatte. Die großen Sträucher hätten mich beschützen müssen, aber abends saß Erika wieder klagend an Mutters Küchentisch. Scherzhaft fragte sie, ob ich zu wenig zu Essen bekomme oder Bauchschmerzen hätte, und noch in Anwesenheit von Erika ermahnte mich meine Mutter, gab mir Hausarrest oder erteilte Strafarbeiten. Es nützte aber alles nichts, denn schon am nächsten Tag stand ich wieder im Garten unter dem Walnussbaum, und Erikas kratzige Stimme rief mich zu sich: „Irgendwann fällt dir eine Nuss auf den Kopf. Bumm, tot!“ Und weil sie mich schon seit zwei, drei Stunden von ihrem Küchenfenster aus im Garten beobachtete und wusste, dass ich bereits den ganzen Nachmittag unter dem Walnussbaum stand, ließ sie mich durch das große Loch im Zaun klettern, und wir buken einen Johannisbeerkuchen oder einen Himbeerkuchen oder ein anderes Obst aus ihrem Kühlfach. Ihr ganzer Garten ist voll mit Obst.

To be continued

Sex & Perspektive ist 2020 im Herzstückverlag erschienen. Sarah Berger schreibt Prosatexte und Essays und lebt in Berlin. 

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