Church. Eine Geschichte von Constantin Klemm

Paul steckt die Finger in die Taschen seines Jacketts. Vier innen lang nach unten und den Daumen vorne über dem Saum abgeknickt. Das macht er immer, wenn er nervös ist. Dazu reckt er den Hals und schaut sich um. Gerade, als wir reinkamen, drehten sich kurz alle Köpfe in unsere Richtung. Dann sog sich die Tür hinter uns ins Schloss, und jetzt schauen alle wieder weg. Wir müssen also was machen, planlos rumstehen sieht nicht gut aus.

“Bier?”

frage ich laut über die Musik hinweg in seine Richtung. Er nickt, nimmt die Rechte aus der Tasche, fährt sich über die Wange und fasst sich ans Kinn. Dann löst er auch die Linke, öffnet den Knopf des Jacketts und streckt die Brust raus. Ich drücke mich zwischen zwei Hockern an die Bar, stütze mich mit den Ellenbogen auf das Holz und versuche, Augenkontakt zu kriegen.

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“Auf der Seite von denen schreiben die einfach alles groß. Also Großbuchstaben.”

Paul dreht sich um.

“Warum erzählst Du mir so eine Scheiße? Sei ruhig und bleib hinter mir. Und pack das Handy weg.”

Er ist nervös, weil er nicht sicher ist, ob wir reinkommen. Er sagt zwar, es wird klappen, aber sicher ist er nicht. Zwei Jungs ist nie sicher.

Ich stecke mir die Haare hinters Ohr und drehe meinen Kopf leicht nach rechts. Links ist meine gute Seite. Rechts von mir ist eine große Fensterscheibe. Sie ist von innen fast komplett beschlagen, nur an einer Stelle lehnt ein Hinterkopf. Die gold-braunen, glatten langen Haare des Hinterkopfes ziehen kleine Schlieren über die Scheibe, durch die Licht fällt. Es ist unglaublich voll und laut. Die Haare gehen in eine schwarze Damenlederjacke über, die man aber nur verschwommen sieht, weil sie nicht direkt an der Scheibe lehnt. Ganz oben unter dem Fensterrahmen sind dicke Tropfen, die, wenn sie schwer genug sind, auf der Scheibe langsam gerade nach unten laufen. Plötzlich greift Paul am Reißverschluss in meine Jacke, ich stolpere einen Schritt nach vorn, aber er hält mich und zieht mich hinter sich her und durch die Tür.

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Zwei grüne nulldreiunddreißiger Bierflaschen schlagen gegeneinander. Sie wackeln kurz, stabilisieren sich und stehen dann gerade. Ich greife mit der Rechten in die Tasche der Jeans und hole einen Schein raus. Ich lege ihn neben die Flaschen, das Mädchen hinter der Bar guckt mich kurz an, ich glaube, sie will ‘stimmt so’ auf meinen Lippen lesen, aber ich brauche die zwei Euro, in der Tasche war nicht mehr viel.

Ich gebe Paul sein Bier, er prostet mir zu, ich will was sagen, sage

“Musik ist gar nicht mal so geil jetzt…,”

Paul verdreht die Augen. Hinter uns geht die Tür auf, neue Leute kommen rein, wir müssen weiter durch.

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Wir stehen am Rand der Tanzfläche neben einem alten Kachelofen und gucken. Es wird wild getanzt und geschubst. Die Gruppe vor uns springt durch die Gegend. Einer hüpft besonders aggressiv, er springt zweimal knapp vor mir rauf und runter, dabei passt es eigentlich gar nicht zur Musik, beim dritten Mal kommt er noch näher und ich muss einen Schritt zurück, sonst hätte er mir den Kopf gegen das Kinn gehauen. Ich will ihn nach vorne stoßen, aber da hat ihn schon einer seiner Kollegen am Ärmel gepackt. Alle fünf Minuten ziehe ich aus Pauls Tasche die Zigaretten.

Irgendwann tanzen zwei Mädels vor uns. Paul bläst Rauch in ihre Richtung. Ich glaube er will sie provozieren, damit sie sich umdrehen und er dann mit ihnen reden kann, das wäre so seine Art des Ansprechens. Mir ist das peinlich, ich stelle mich eine halben Schritt weg und gucke auf mein Handy.

Die eine ist ganz süß, sie hat einen Jeansrock an und ein beiges Top und eine kleine schwarze Damenhandtasche mit einer goldenen Kordel. Sie ist nicht besonders groß. Sie tanzen jetzt schon relativ lange vor uns. Pauls Rauch scheint sie nicht zu stören. Sie kennen die Gruppe, die eben vor uns so wild tanzte, aber sie gehören nicht wirklich dazu. Ich gucke nach rechts, ob da jemand ist, dessentwegen sie hier tanzen, aber da stehen nur zwei Typen mit dem Rücken zu uns. Links von mir ist Paul und neben ihm die Bar. Hinter mir sind noch drei Leute, aber mit sich selbst beschäftigt. Vielleicht tanzen die wirklich unseretwegen hier. Ich strecke mich, atme tief ein und schaue Paul an. Er ist zwar älter als ich und studiert schon, aber besser aussehen tut er nicht. Die mit dem Jeansrock fährt sich durch ihre dicken, blonden Haare und macht so eine Frauenbewegung, die ich nie verstehe, so ein Lüften oder Durchschütteln der Haare. Sie dreht sich über die linke Seite in unsere Richtung, ich gehe automatisch einen Schritt zurück, sie greift nach ihrer Tasche und holt ein dickes Frauenportemonnaie heraus. Ich lasse sie vorbei an die Bar. Sie stützt sich mit den Ellenbogen auf den Tresen und winkt. Ihre Füße stehen leicht zurückgesetzt, so dass ihr Körper und die Bar ein Dreieck bilden.

Mein Blick bleibt an ihrem Unterschenkel hängen. Da, wo der große, äußere Muskel und der schmalere, innere zusammenkommen und das Bein dann nach unten schlanker wird, steckt eine kleine, viereckige braune Scherbe im Fleisch. Ein dünner, roter Faden läuft in den glitzernden, goldenen Socken in ihren Chucks. Ich erschrecke fast selber ein bisschen, dann aber schlägt mein Herz höher, weil ich jetzt einen Grund habe, sie anzusprechen. Ich fasse ihr an die Schulter, aber in dem Moment wird mir klar, dass die Idee nicht gut ist, weil, wenn ich jetzt auf die Scherbe zeige, wird sie rausgehen oder zumindest auf Toilette, um sie rauszuziehen und die Wunde zu säubern. Aber es ist zu spät, sie zuckt kurz, dreht sich dann zu mir, sie guckt so mittel-freundlich, ich habe jetzt noch eine Zehntelsekunde, bevor es komisch wird, und ich weiß nichts anderes als

“Lass mich Dich einladen”

Sie guckt mich an, lächelt erst ein bisschen gequält und sagt dann

“Ok”

und verzieht den Mund so, als hätte sie gerade etwas gegessen, von dem sie noch nicht weiß, ob es gut oder schlecht ist, auf jeden Fall komisch. Ich atme schnell, weiß auch nichts passendes, was ich hinterherschicken kann jetzt, stelle mein Bier links von mir auf die Bar, fahre mit der Rechten in die Tasche meiner Jeans, hoffe inständig auf das erlösende Gefühl eines zweiten Zwei-Euro-Stückes zwischen meinen Fingern, aber es kommt nicht, ich greife schließlich alle Münzen auf einmal, hoffe, dass es irgendwie reicht, halte sie ins Licht, sie schaut auf meine offene Handfläche; weil ich größer bin als sie, kann ich ihr Gesicht nicht sehen, sie sagt nichts, wiegt ihren Kopf leicht, dann senkt sie langsam ihre Hand auf meine, in der vor allem 50 und 20 Cent Münzen sind, es ist nicht auf den ersten Blick zu erkennen, ob es noch für ein Bier reicht, und sie sagt

“Lass mal, ist schon Ok.”

Dabei ist ihre Stimme tiefer als vorhin und ich glaube, sie will mir auch zeigen, dass sie gecheckt hat, dass sie älter ist als ich. Ich schließe reflexartig die Faust, kurz bevor ihre Hand auf meiner liegt, wende mich zur Theke und sage

“Nein, wirklich.”

Sie schaut jetzt etwas genervt, ich versuche zu lächeln, lehne mich mit Links auf die Bar, mein Oberkörper ist in ihre Richtung hin offen. Im letzten Moment spüre ich, dass etwas nicht stimmt, weiß aber nicht was. Etwas fährt an meiner linken Seite entlang, schlägt leicht gegen mein äußeres Bein und einen Moment später höre ich trotz der Musik deutlich das ploppende Geräusch einer berstenden Flasche. Sie springt zurück und schreit auf, aber eher vor Schreck. Aber es ist zu spät, sie senkt langsam ihren Kopf, streicht den Jeansrock glatt, schaut erst vorn an sich herunter, fährt mit der Hand über ihr Schienbein, hält mir vorwurfsvoll den Bierfilm auf ihrer Handinnenseite vors Gesicht und will sich umdrehen, in dem Moment fasst ihre Freundin sie an der Schulter, hält sich die Hand vor den Mund und zeigt nach unten auf die Rückseite ihres Unterschenkels.

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Langsam, Zahn für Zahn ziehe ich den Reißverschluss auf. Ich stelle die Füße hüftbreit und schaue an die Decke. Es ist schwer, die Tür neben mir ist nicht ganz zu, draußen ist unruhiges Lachen und einen Sichtschutz gibt es nicht. Ich versuche Allmachtsphantasien, manchmal hilft das. Ich denke an das Mädchen von vorhin mit der Scherbe im Bein. Ich drücke auf den Spülknopf, aber es hilft alles nichts.

Auf einmal fliegt die Tür neben mir auf, das Blech der Türklinke knallt gegen die Fliesen, eine Gruppe kommt rein, älter als ich und laut. Aus den Augenwinkeln sehe ich den ersten, er hat dunkle Haare und wankt. Er weicht mir aus, aber der zweite, auch er wankt, sieht mich zu spät und rammt mit der rechten Schulter in meinen Rücken. Ich stolpere leicht nach vorn, hinter mir Kichern, er entschuldigt sich nur flüchtig, ich spüre an meiner Hand, das sich durch den Schreck etwas gelöst hat und auf die Hose gekommen ist, schaue an mir runter und fluche. Der Dritte hat lange Haare und trägt eine kariertes Jackett. Ein kleiner, vielleicht zwei Zentimeter breiter Streifen auf meiner Jeans. Ich sehe meine Schuhe, schwarze, schwere Lederschuhe, Church’s, die hat mir Volker zum Achtzehnten geschenkt, ich ziehe den linken Fuß kurz vor und schleudere ihn dann nach hinten, aber ich trete ins Leere, schwanke, kann mich aber am Spülknopf festhalten. Hinter dem mit dem karierten Jackett kommt noch einer. Ich spüre seine Hand an meiner Wange, mein Kopf wird herumgerissen, auch er hat ein Jackett an, dazu eine hellbraune Hornbrille. Er kommt mit dem Mund ganz nah an mein Ohr, ich spüre seinen Bart und den Schweiß in seinem Gesicht und höre

“Ruhig bleiben, junger Freund”

Er greift mit der anderen Hand hinten in meine Haare und schüttelt meinen Kopf kurz wie eine Hundemutter einen Welpenkopf, ich bekomme Angst, vorne hängt mein Schwanz aus der Jeans, ich haue mit meinen Ellbogen in Richtung seiner Hüfte, er weicht aus und lässt mich los und einen Augenblick später dreht das Drehschloss der Klotür und ich höre ‘so ein Spast’. Benommen ziehe ich die Jeans hoch, an pinkeln ist nicht mehr zu denken. Ich gehe raus und trockne mir das Gesicht mit einem groben grauen Papiertuch. Aus meinem Ohr hinab über den Winkel des Unterkiefers auf den Hals läuft ein dünner Faden aus Sabber und süßem Alkohol.

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Links neben mir steht ein gedrungener Typ in einem dunkelblauen, verknitterten, aber seidig glänzenden Anzug. Kleine Tropfen stehen zwischen seinen stoppeligen Haaren und auf der Stirn. Sie reflektieren im Licht der Bar, an der wir sitzen. Sein Drink ist leer, er zieht trotzdem an einem Strohhalm und ich höre das Geräusch des ins Nichts saugenden Plastiks. Paul ist irgendwann gegangen. Er prostet mir zu. Ich will etwas zu ihm sagen, weiß aber nicht, was. Ich schaue den groben Händen des Kellners zu, wie sie einen Kronkorken wegflitschen, gucke bewusst sicher zwei Minuten nicht nach links, aber als ich wieder hinschaue, ist er immer noch da und schaut mich an.

“Was machen Sie beruflich?”

Eine bessere Frage fällt mir nicht ein, aber es scheint ihn nicht zu stören. Er nimmt seine hellgraue, fast durchsichtige Hornbrille ab, haucht gegen die Gläser, zieht ein Tuch aus der Hosentasche und putzt betont langsam seine Brille.

“Rechtsberatung”

sagt er, ohne mich anzuschauen. Ich nicke. Dann deute ich auf mich, spreche aber jetzt auch nicht mehr in seine Richtung, sondern nach vorn, in Richtung der Bar und sage

“Abitur.”

Er steckt das Tuch weg, holt ein Blackberry aus der Tasche der Anzugjacke und tippt darauf.

“Gut. Dann ist ja noch alles offen.”

Seine Stimme ist heiser. Er räuspert sich. Es ist peinlich, aber er ist sehr viel älter als ich und deshalb frage ich ihn, ob er mir ein Bier bezahlt. Er guckt erstaunt, winkt dann aber dem Mädchen hinter der Bar. Als es vor mir steht, will ich ihm zuprosten, aber er guckt jetzt sehr genervt, so, als hätte ich meinen Kredit jetzt aufgebraucht und zögert, bis er sein leeres Glas symbolisch kurz in meine Richtung hebt. Ich schaue nach vorn und es ist mir unangenehm.

Auf einmal aber steckt er das Blackberry weg, schaut zu mir rüber und sagt

“Mach was Kreatives.”

Er dreht den Oberkörper in meine Richtung und stützt sich dabei mit dem linken Unterarm auf der Bar ab. Auf dem Holz steht ein dünner Film von verschütteten Getränken, er merkt es, flucht laut, fährt mit der rechten Hand über den linken Ärmel seines Jacketts und schleudert dann die Flüssigkeit von seiner Handkante auf den Boden.

“Musik, Film, Malen… Scheißegal.”

Er fingert die längs geschnittene Gurke aus seinem Glas, beißt darauf, er steht jetzt frontal vor mir und schaut mich direkt an, er zieht die Gurke langsam zwischen seinen Lippen wieder heraus, saugt die Spucke im Mund zusammen, beißt die Gurke dann doch in der Mitte durch, lutscht darauf herum und spuckt schließlich einen angekauten grünlichen Rest zurück ins Glas:

“Sonst kannst Du irgendwann nicht mehr ficken.” 

“Church” von Constantin Klemm stammt aus der 2017 erschienenen Anthologie “Nutzloses Gesindel – Geschichten aus dem King Size”. Bisher aus diesem Buch hier erschienen sind “Das trunkene Schiff” von Udo Tietz, “King Size III.” von Julia Schramm und “Ich hab es nie gefühlt – Über eine Liebesgeschichte, die keine wurde” von Daniela Wilmer.

Constantin Klemm veröffentlichte 2017 sein Romandebut “Beckenrand”, ein “Coming-of-Age-Roman, der seinesgleichen sucht” (Caroline Rosales in der Berliner Morgenpost).

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