27.12.2019, 12:30 Uhr, Flugzeug. Von Gen Eickers

Ich bin seit ein paar Stunden am Flughafen weil ich weg musste. Irgendwann überkam mich eine Panik, dass einfach der Bus nicht kommt, oder die Fähre nicht fährt und ich einfach feststecke an diesem Ort, der gut zu mir war, aber mich auch daran erinnert hat, wie viel Angst ich vor mir selbst habe und dass ich nicht mit mir allein sein will.

Es ist 12.30Uhr. Zu früh, ich gehe dennoch zum Gate. Sicherheitskontrolle. Ich sehe keinen Ganzkörperscanner – aufatmen. Der Flughafen ist für mich schon seit langem ein Ort, an dem ich korrekt gegendert werde – in Anbetracht der beschränkten Optionen; jedenfalls wollte mich schon lange keine weibliche Security mehr anfassen. Auch diesmal nicht. Der Metalldetektor findet aber irgendwas an mir und die männliche Security entscheidet, mich abzutasten: kleiner als ich, vielleicht Mitte 30, keine Zweifel an meinem Mann-sein. Ich spanne meine Brustmuskulatur an – zum Glück sind mir nie so richtige Titten gewachsen in der ersten Pubertät, denke ich. Brust angespannt, er fasst mich an, kurz Panik, nichts passiert. Er hat nichts gefunden: weder mein “wahres Geschlecht”, also meine Genitalkategorie, die von der Gemeingesellschaft so herrlich willkürlich als diese festgelegt wurde, noch sonst irgendwas illegales. Ich atme, gehe weg, blicke noch einmal zurück: Vermutlich werde ich sein Gesicht nicht vergessen; alle Gesichter, die den Personen gehörten, die mich abtasten mussten, sind in mich eingebrannt.

Ich habe 8 Tage Einsamkeit überlebt.

Ich erinnere mich selbst an meine Mutter, als ich das Gefühl habe, nur zuhause sein zu wollen. Ich denke, reiß dich zusammen, sei nicht so wie deine Mutter, du bist gerne hier, du bist gerne woanders.

Ich erinnere mich selbst an meinen Vater, als ich das Gefühl habe, vor dem Allein-sein, dem Sein mit mir selbst, Angst zu haben. Nicht weil ich denke, dass er Angst vor dem Allein-sein hatte, sondern weil ich denke, wenn ich dir irgendwie ähnlich bin, Papa – und immerhin wurde uns beiden irgendeine Form psychologischer Abnorm bescheinigt – wenn ich dir irgendwie ähnlich bin, vielleicht mache ich dann das Gleiche. Vielleicht warst du auch nur allein auf Reisen und irgendwann ist dir eingefallen dass der Sinn fehlt. Und er fehlt.

(Als mir die Sonne ins Gesicht brennt erinnere ich mich für dich daran, wie sich das anfühlt.)

Du musstest nicht einmal hoffen, dass die Security dich hin- und herschickt, weil sie nicht verstehen, wer, nein WAS du bist. Du bist auch gar nicht geflogen. Du musstest nicht hautenge Unterhemden unter deine T-Shirts anziehen, um nicht aufzufliegen, um in Sicherheit zu sein. Du musstest nicht eine 20seitige Bewerbung schreiben, um dir die Titten abschneiden lassen zu dürfen.  Du musstest dir nie die Mühe machen, dich selbst neu kennenzulernen, dich selbst zu konstituieren, du hast aufgegeben.

Das erste was X zu mir gesagt hat, als sie von deinem Tod erfahren hat, war – naja erstmal hat sie gelacht – sie hat so gelacht wie du, wie ich, vielleicht auch wie die anderen, wenn etwas passiert, das irgendwie nicht glaubhaft ist. Es ist tragikomisch, das Lachen. Eines der wenigen Dinge, die uns vereint haben.

Jedenfalls X, mit dem tragikomischen Lachen im Gesicht, schaut auf von dem scheisse unsensiblen Abschiedsbrief den du X geschrieben hast und sagt, er ist ein feiges Arschloch. Und ich habe nur verstanden, dass du ein Arschloch bist, schon immer, aber nicht warum du feige sein sollst. Ich dachte, es macht Sinn, es ist alles andere als feige, es ist dein Recht, dir einen Strick zu nehmen und alles zu beenden.

Jetzt endlich, im Flugzeug, verstehe ich was X meinte. Feige. Feige weil du aufgegeben hast. Feige weil du zu stolz warst. Feige weil du dich der Verantwortung entzogen hast. Feige weil du dir die Gelegenheit genommen hast, dich selbst neu kennenzulernen.

In ungefähr einem Monat ist mein erster Testo-Geburtstag. Jedes Mal wenn mir eine Spritze dieses zähflüssigen Zeugs in den mittlerweile halbmuskulösen Arsch verabreicht wird, habe ich Angst, zu werden wie du. Dennoch entscheide ich mich jedes Mal aufs Neue dafür, trotz des Unbekannten. Der Angst zuwider denke ich mich neu. Ich mache, was du verpasst hast zu machen.

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Photo: Sarah Berger

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